Projektreportage

Erhalten und weiterbauen

Rathaus Reinheim, gernot schulz : architektur

Erhalten und weiterbauen

  • Autorin: Anna Scheuermann
  • Fotos: Stefan Schilling

Im Rathaus Reinheim wurde durch gernot schulz : architektur möglichst viel bewahrt und nach heutigen Standards mit dem Werkzeugkoffer der Nachkriegsmoderne weitergebaut. Nicht nur die graue Energie des Gebäudes wurde genutzt und ergänzt, sondern auch die für Nutzer und Anwohner identitätsstiftende Geschichte des Rathauses erhalten und in die heutige Zeit übertragen.

Abhängig vom Betrachtungswinkel, vom Lichteinfall und von der Lichtintensität erscheint die changierende Oberfläche unterschiedlich für den Betrachter.

Die hessische Kleinstadt Reinheim mit ca. 16.000 Einwohnern liegt im Landkreis Darmstadt-Dieburg im südlichen Rhein-Main-Gebiet am Rand des Odenwalds. In wenigen Kilometern erreicht man Darmstadt, die nächste Großstadt, und ebenso weit ist es bis zur angrenzenden Metropolregion Rhein-Neckar. Seit der Gebietsreform 1977 gehören zur Stadt Reinheim die Kernstadt sowie vier weitere Stadtteile mit dörflichem Ursprung und zwei Weiler. Das historische Zentrum ist geprägt von der kleinteiligen Bausubstanz in der mittelalterlichen Altstadt, der denkmalgeschützten Dreifaltigkeitskirche (1611) und dem noch erhaltenen Herrenhaus des Hofguts (ehemals Willichhof, ca. 1695) samt angrenzendem Stadtpark.

In dieser Umgebung wurden auf der nördlichen Seite des Parks in der Nachkriegszeit einige notwendige Großbauten rund um den dortigen Cestasplatz errichtet, so auch das Rathaus Reinheim (1974, Erweiterungen 1978 und 1990, 2019 durch gernot schulz : architektur). Ausgerechnet hier sollte es die ungeliebte und häufig gescholtene Nachkriegsmoderne nicht so hart treffen wie in vielen anderen deutschen Kommunen.

Mit den großen Betonauskragungen hatte das ursprüngliche Rathaus aus 1974 einen eigenwilligen, brutalistischen Ausdruck.

Die Stadt Reinheim entschied sich anstatt eines Abrisses und Neubaus für eine energetische Sanierung, Reorganisation und Ergänzung des Gebäudebestands. Auch das Abreißen und Neubauen war vorab kalkuliert worden, doch die Sanierung stellte sich als kostengünstigste Variante heraus – welch ein Glück für die Gemeinde, kann man im Rückblick nur sagen. Denn so wird die lokale (Bau-)Geschichte ebenfalls fortgeschrieben für kommende Generationen. Allerdings war nicht die Ökobilanzierung oder eine gesamtheitliche Lebenszyklusanalyse ausschlaggebend, auch wenn diesein wunderbares Best-Practice-Beispiel für die nachhaltige Sanierung von öffentlichen Nachkriegsbauten geworden wäre, sondern die geringen Interimskosten durch die Nutzung eigener Räumlichkeiten für die Auslagerung der Stadtverwaltung während der Bauzeit.

Die Sanierung stellte sich als kostengünstigste Variante heraus – welch ein Glück für die Gemeinde. Denn so wird die lokale (Bau-)Geschichte fortgeschrieben für kommende Generationen.

In einem nicht offenen Realisierungswettbewerb (2015) und dem anschließenden öffentlichen Vergabeverfahren setzte sich das Kölner Büro gernot schulz : architektur durch. Aufbauend auf dieBeschäftigung mit der rheinländischen Nachkriegsmoderne wurde die grundlegende Idee für das hessische Reinheim entwickelt: Die tragende Grundstruktur sollte erhalten bleiben und nach heutigen Standards und Möglichkeiten mit dem Werkzeugkoffer der Nachkriegsmoderne weitergebaut werden.

Reorganisiert, baulich ergänzt und energetisch saniert: Das Rathaus Reinheim zeigt der Stadt ein neues Gesicht.

In dem Wort „Weiterbauen“ – im Gegensatz zum „Umbauen“ – steckt der entscheidende Kunstgriff: So wird nicht nur die graue Energie des Gebäudes genutzt und passend ergänzt, sondern auch die für Nutzer und Bevölkerung identitätsstiftende Geschichte des Rathauses erhalten und in die heutige Zeit übertragen. Das Bauprojekt wurde von Gernot Schulz und seinem Team von außen nach innen entwickelt.

Entscheidend bei der neuen Fassadengestaltung war die Verfeinerung und Verstärkung der klaren Linienführung des Gebäudeensembles. So wurden die vorhandenen massiven Auskragungen entfernt und durch dünner proportionierte Gesimse ersetzt, die nun ohne Sprünge rund um das Gebäude laufen. Außerdem wurden die Brüstungshöhen der horizontalen Fensterbänder etwas hinabgesetzt, so dass die schwebende Wirkung nach außen verstärkt und mehr Licht und Luft in die Arbeitszimmer und Flure geholt werden konnten.

Das große Gebäude gewinnt durch die helle Fassade an Ruhe und verliert an Wucht.

Der ruhige, warme Grauton verleiht dem in der kleinteiligen Stadtstruktur großvolumig wirkenden Gebäude Nahbarkeit.

Um die kleinteiligere und historische Umgebung nicht zu stören und den terrassierten Charakter beizubehalten, wurden bei der gewünschten räumlichen Ergänzung lediglich eine kleine Erweiterung in Leichtbauweise im zweiten Obergeschoss und eine neue nutzbare Dachterrasse realisiert. Der deutlichste Unterschied zum Bestandsgebäude ist jedoch die neue vorgehängte und hinterlüftete Klinkerfassade. Hier entschieden sich die Architektinnen im Gegensatz zu dem ursprünglichen roten Stein für helle Riemchen aus Vollbrandstein, Aarhus weißgrau von der Firma Röben im Dünnformat von 240 x 14 x 52 Millimetern. Bei den Details, beispielsweise an den Ecken, wurde mit der Verwendung von Winkelriemchen erreicht, dass nicht ersichtlich ist, dass nur ein Riemchen und kein voller Klinkerstein gewählt wurde.

Das große Gebäude gewinnt durch die helle, changierende Fassade an Ruhe und verliert an Wucht – welches eine besonders angenehme Wirkung Richtung Stadtpark entfaltet. Neben der unsichtbaren, aber umso wirksameren energetischen Sanierung des Rathauses wurden auch von innen heraus die Grundlagen für moderne Arbeitsplätze gelegt. Die breite Zufriedenheit in der Verwaltung über die großzügigen und hellen Büros und Aufenthaltsbereiche ist offensichtlich. Zusätzlich zur Lüftungsanlage mit Nachtauskühlung, die besonders die bisherigen sommerlichen Spitzen absenkt, gibt es nun individuell öffenbare Fenster und gläserne, teils opak beschichtete Flurwände, die die alltägliche Kommunikation mit den Kollegen vereinfachen.

Durch die neu gewonnene Großzügigkeit und Helligkeit im Foyer und in den öffentlichen Bereichen fühlen sich auch die Reinheimer Bürgerinnen in ihrem Rathaus willkommen. Ein Teil ihrer Geschichte ist durch das Weiterbauen erhalten und somit wertgeschätzt worden – nun können auch ihre Kinder und Enkelkinder an gleicher Stelle gemeldet und in den kommenden Jahrzehnten getraut werden.

Architekten

gernot schulz : architektur, Köln (DE)

Gernot Schulz studierte Architektur an der Uni in Dortmund und der ETH in Zürich. Er schloss seine Ausbildung 1992 mit dem Titel Diplom-Ingenieur ab. Im Anschluss arbeitete er bei Cruz y Ortiz in Sevilla bevor er nach Köln kam, um mit Thomas van den Valentyn in Projektpartnerschaft zu arbeiten und gleichzeitig sein eigenes Büro zu gründen. Viele preisgekrönte Projekte wie das Campusensemble in Halle an der Saale, die Studentenwohnungen am Landrain oder die Residenz des Dt. Botschafters in Bratislava folgten. 2001 gründete er als CEO das Büro gernot schulz : architektur. Nach verschiedenen Lehraufträgen und Vertretungsprofessuren u.a. an der PBSA Düsseldorf, der TU Darmstadt und der Universität Sevilla, lehrt Gernot Schulz seit 2004 an der Hochschule Bochum Entwerfen und Baukonstruktion und ist dort seit 2016 Dekan des Fachbereiches Architektur.

Projekte (Auswahl)

gernot schulz : architektur

2020 Rathaus Reinheim, Reinheim
2020 Bildungslandschaft Altstadt Nord, Köln
2018 Jugendbildungsstätte Haus Altenberg, Odenthal
2010 Deutsche Botschaft, Kuala Lumpur (MYS)
2002 Campusensemble Audimax, Campus und Juridicum der MLU, Halle/ Saale

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