Im Gespräch mit Gernot Schulz, Carolin Ebbing, Georg Ebbing
- Interview: Boris Schade-Bünsow, Marie Bruun Yde
- Fotos: Lichtschacht
Marie Bruun Yde: Herr Schulz, Sie haben einen 2. Preis im Wettbewerb für die Sanierung des Rathauses Reinheim bekommen und sind beauftragt worden. Die Jury war von Ihrer weitgehenden Bewahrung der Architektur und der Neuinterpretation der Nutzungen überzeugt.
Gernot Schulz: Genau, unser Entwurf hat weniger am Gebäude verändert als der Siegerentwurf. Die geforderte Erweiterungsfläche haben wir einfach als Leichtbau auf das Dach gestellt. Wir haben uns sehr mit der Frage beschäftigt, wie man mit einem Gebäude dieser Zeit umgeht. Muss man ein zeitgenössisches Zeichen deutlich sichtbar dazu bauen? Das fanden wir nicht. Stattdessen wollten wir das Haus interpretieren. Das Rathaus hatte sehr schöne Betonauskragungen, die man aus energetischer Sicht nicht erhalten konnte. Wir haben deswegen Gesimse dazu gebaut, um mit einer zeitgenössischen Art der Konstruktion diesen Duktus nachzuvollziehen.
MY: Grundsätzlich verfolgt Ihr Entwurf eine das ursprüngliche Rathaus würdigende Geste, aber durch die abgesägten Auskragungen hat sich die Fassade schon sehr verändert. Sie war früher verschachtelter, jetzt ist sie flacher.
GS: Das Architektenherz hätte die alten Betonauskragungen schon gerne erhalten. Uns faszinierten die von innen nach außen durchlaufenden Betonplatten, auf die noch Blumenkübel aufgesetzt waren. Dem Brutalistischen konnten wir als Architekten eine Schönheit abringen, aber aus wirtschaftlichen Gründen und zur Verbesserung der Besonnung, waren die kleinen Korrekturen legitim. Wir haben uns aus dem gleichen Werkzeugkasten bedient, nur unter den Anforderungen der heutigen Zeit. Eine Besonderheit an dem Gebäude waren auch die sehr hohen Fensterbänder mit 60 Zentimeter Brüstungshöhe und ohne das klassische 1,35-Büroraster, die erhalten werden konnten. Das sind kleine und feine Qualitäten.
„Wir haben uns aus dem gleichen Werkzeugkasten bedient, nur unter den Anforderungen der heutigen Zeit.“
Gernot Schulz
MY: Auch der Backstein ist jetzt heller?
GS: Genau, dadurch wollten wir dem Gebäude an Schwerenehmen und seinen Auftritt im städtebaulichen, dörflichen Kontext verfeinern.
Boris Schade-Bünsow: Korrespondiert die neue Fassade mit anderen Bauwerken in der Umgebung?
GS: Ja, es gibt zum Beispiel eine Kirche in der Umgebung aus Ziegel. Es gibt im Dorf hauptsächlich Putzbauten, die aber auch eine feine horizontale Linierung aufweisen. In der Umgebung haben wir die Themen Feinheit, Fuge und Linierung.
BSB: Welche Möglichkeiten bietet der Ziegel im Umgang mit dem Bestand?
GS: Ich glaube, dass Ziegel als Material Solidität ausdrücken. Architekten hatten schon immer ein Faible dafür. Es ist ein Produkt, bei dem Fachleute und Laien sehr gut zusammenfinden können. Jeder kann sich vorstellen, wie das gemacht worden ist. Der Ziegel ist greifbar, vielfältig wie ein Legostein, nahbar und mit weniger Instandhaltungskosten verbunden als Putz-Wärmedämmverbundsysteme.
„Das Neue muss sich nicht unbedingt vom Bestand abgrenzen.“
Carolin Ebbing
MY: Was hat sich seit den 1960er Jahren in der öffentlichen Verwaltung geändert und wie kommt das in der Neugestaltung zum Ausdruck?
GS: Geändert hat sich die Antwort auf die Frage „Was ist ein Rathaus?”. Vorher war es ein klassischer Bau, mit dunklen Fluren und geschlossenen Türen. Es war Wille des Bauherrn, der Stadt Reinheim, dass das Rathaus ein öffentlichkeitsnäheres Institut mit gläsernen Flurwänden wird.
BSB: Herr Ebbing, Sie haben ein Manifest zum „reproduktiven Entwerfen“ geschrieben und eine Ausstellung dazu kuratiert. Beide setzen sich mit der Aneignung des architektonischen Bestandes auseinander. Was bedeutet für Sie „reproduktives Entwerfen“?
Georg Ebbing: Konkreter Anlass war ein internationaler, offener Wettbewerb im Jahr 2014 für drei Stadthäuser in Lübeck. Diese werden häufig durch möglichst besondere Arbeiten geprägt und genau das wollten wir nicht. Da wir es leid sind, immer wieder neu anzufangen, suchten wir nach einem anderen Ansatz und entdeckten einen Fassadenwettbewerb von 1901 zum gleichen Thema. Hier fanden wir unterschiedlichste Fassaden, aus denen wir drei herausgenommen und reproduziert haben. Aus diesem Ansatz entstand die Idee ein Manifest zu verfassen. Das „reproduktive Entwerfen“ zeigt eine Kontinuität auf, die sich aber durch andere Bedingungen auch verändert. Das Ziel ist nicht, immer kategorisch etwas Neues zu entwerfen, sondern immer das Vertraute zum Maßstab und zur Referenz zu machen und somit vom Bestehenden auszugehen. Dies verstehen wir nicht als etwas Rückwärtsgewandtes, sondern immer als produktiv.
„Wir versuchen uns alles anzueignen, was da ist und von dem Bestand zu nehmen, was uns an der Stelle und mit der Aufgabe richtig erscheint.“
Georg Ebbing
BSB: Aber da hat sich hinter der Fassade sicher eine Menge geändert. Im Raumprogramm, in der Nutzung der Gebäude …
GE: Ja, es waren Wohnungen mit einer von der Parzellenbreite abhängigen EG-Nutzung vorgesehen. Außen hat sich auch einiges verändert. Die Grundstücksbreiten waren andere, also mussten die Häuser äußerlich gestreckt und gestaucht werden. Da es ein Fassadenwettbewerb war, spielten die Grundrisse eine untergeordnete Rolle.
MY: Sie nennen drei Arten des Umgangs mit der Architekturgeschichte: Geschichtsvergessene Tabula-Rasa-Strategien, das reine Wiedergeben des Bestandes sowie ein vertrauter Umgang mit Geschichte, bei dem Traditionen wiederkehren dürfen, aber die aktuelle Nutzung im Vordergrund steht.
GE: Das Tabula-Rasa-Denken können und wollen wir nicht. Wir versuchen uns alles anzueignen, was da ist und von dem Bestand zu nehmen, was uns an der Stelle und mit der Aufgabe richtig erscheint. Dabei nehmen wir uns die Freiheit auch unterschiedliche Vorlieben zu haben. Also keine Tabus! Keine formalen, keine stilistischen.
MY: Kopien sind aber schon Tabus?
GE: Wenn wir Kopien wie eine Coverversion in der Musik begreifen, dann sind auch diese kein Tabu. Wir haben keinen Alleinvertretungsanspruch. Das „reproduktive Entwerfen“ ist nicht immer die beste Möglichkeit, sondern eine Methode, um zu brauchbaren Entwürfen zu kommen. Was uns nervt ist, dass das Neue und die scheinbar eigenständige Leistung häufig schon a priori als etwas wesenhaft Besseres dargestellt werden.
„Wir können nur auf das aufbauen, was die Generationen vor uns gemacht haben, aber irgendetwas Neues müssen wir als Kulturschaffende hinzufügen.“
Gernot Schulz
BSB: Frau Ebbing, Sie setzen das „reproduktive Entwerfen“ in der Praxis um. Wie arbeiten Sie konkret mit dieser Entwurfsmethode?
Carolin Ebbing: Wir bauen viel im und mit dem Bestand und überlegen uns bei jedem Projekt neu, wie wir damit umgehen. Wir haben beispielsweise eine ehemalige Waschkaue zwischen einer Scheune und einem alten Gutsgebäude umgebaut. Die bestehenden Backsteinbauten haben sehr charakteristische Giebel und Details. Reproduktiv hieß, diese Bauten in ihrer Kraft zu stärken und sie fast unmerklich und vertraut zu ergänzen. Also zu dem großen Giebel einen kleinen Bruder dazu zu bauen. Das Rathaus Reinheim ist für meine Begriffe auch reproduktiv. Es ist wie ein Daumenkino, ich musste drei Mal schauen, um zu sehen was da passiert ist. Es ist im Sinne des Vorhandenen weitergebaut. Das Neue muss sich nicht unbedingt vom Bestand abgrenzen.
BSB: Architektur verändert sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Hochhäuser wurden durch ein Übermaß an verfügbarer Energie ermöglicht, sonst wären sie nie entstanden. Müssten wir als Antwort, beispielsweise auf die aktuellen energetischen Anforderungen, nicht anders bauen?
GE: Es gibt neue Bedingungen, neue zeitgenössische Anforderungen, neue Materialien, dies bestreiten wir nicht, aber kann das nicht alles auch in der vertrauten Form auftauchen? Historisch gesehen waren die ersten Hochhäuser formal keine neue Typologie. Hohe, große Gebäude, die nach oben streben, kannte man schon aus der Baugeschichte. Beim Chicago-Tribune-Tower-Wettbewerb 1922 waren es Reproduktionen, Transformationen der gotischen Kathedralen und zahlreicher anderer historischer Bauten, die erfolgreich waren. Deswegen waren sie aber nicht weniger innovativ.
GS: Wir können nur auf das aufbauen, was die Generationen vor uns gemacht haben, aber irgendetwas Neues müssen wir als Kulturschaffende hinzufügen. Das kann aber auch in kleinem Maßstab passieren, wie wir es in Rheinheim gemacht haben. Ich mache das immer an dem Erhalt der Nutzung fest. Die Frauenkirche in Dresden war vorher und hinterher eine Kirche. Beim Kulturerhalt und Wiederaufbau muss man nicht immer seinen Stempel aufdrücken. Aber man kann auch abreißen, wenn sich der Ort dadurch verbessert.
Interview
Architektur
gernot schulz : architektur, Köln (DE)
www.gernotschulzarchitektur.de
Gernot Schulz studierte Architektur an der Uni in Dortmund und der ETH in Zürich. Er schloss seine Ausbildung 1992 mit dem Titel Diplom-Ingenieur ab. Im Anschluss arbeitete er bei Cruz y Ortiz in Sevilla bevor er nach Köln kam, um mit Thomas van den Valentyn in Projektpartnerschaft zu arbeiten und gleichzeitig sein eigenes Büro zu gründen. Viele preisgekrönte Projekte wie das Campusensemble in Halle an der Saale, die Studentenwohnungen am Landrain oder die Residenz des Dt. Botschafters in Bratislava folgten. 2001 gründete er als CEO das Büro gernot schulz : architektur. Nach verschiedenen Lehraufträgen und Vertretungsprofessuren u.a. an der PBSA Düsseldorf, der TU Darmstadt und der Universität Sevilla, lehrt Gernot Schulz seit 2004 an der Hochschule Bochum Entwerfen und Baukonstruktion und ist dort seit 2016 Dekan des Fachbereiches Architektur.
EBBING, Bochum (DE)
Carolin und Georg Ebbing gründeten 2006 ihr Architekturbüro mit Sitz in Bochum. Neben Lehre und Forschung an verschiedenen Hochschulen realisieren sie in unterschiedlichen Maßstäben zahlreiche Projekte mit und im Bestand. Die Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen – ob gebaut oder Papier geblieben – bestimmt die verschiedenen Arbeiten. Hierbei spielt das Material mit seinen sinnlichen Qualitäten und seiner Alterungsfähigkeit eine große Rolle. So werden gerade in den neueren Projekten traditionelle Materialien und zeitgenössische Techniken benutzt, um atmosphärische Räume zu schaffen, in denen sich die Benutzerinnen gerne aufhalten. Darüber hinaus betreiben sie mit von Ey Architektur, Philipp Rentschler Architekten und Studio 2020, alle in Berlin, die Plattform „Reproduktives Entwerfen“. Dies ist eine Entwurfs- und Arbeitsmethode, die in vielfältiger Weise auf alles, was bereits in der Architektur existiert, zurückgreift, um dadurch auf unterschiedlichste architektonische und städtebauliche Situationen angemessen reagieren zu können.
Projekte (Auswahl)
gernot schulz : architektur
2020 Rathaus Reinheim, Reinheim
2020 Bildungslandschaft Altstadt Nord, Köln
2018 Jugendbildungsstätte Haus Altenberg, Odenthal
2010 Deutsche Botschaft, Kuala Lumpur (MYS)
2002 Campusensemble Audimax, Campus und Juridicum der MLU, Halle/ Saale
EBBING
2021 Haus in der Ruine, Harris (GB-SCT)
2021 Ein altes Haus – Denkmalgerechte Sanierung eines Wohnhauses von 1905, Bochum
2020 Ausstellung – Reproduktives Entwerfen
2020 Baukunstarchiv NRW, Dortmund
2020 Haus Gro – Umbau, Sanierung, Erweiterung eines Gutshauses, Bottrop