Vom Schema zur Flexibilität

Betty 1+2, ONV Arkitekter, Kopenhagen

Vom Schema zur Flexibilität

  • Autorin: Kasper Lægring
  • Fotos: Niels Nygaard

Am westlichen Ende der Frederiksberg Kommune, einer dicht bebauten, unabhängigen Enklave im Großraum Kopenhagen und Teil der dänischen Hauptstadt, befindet sich eine moderne Siedlung mit Hochhäusern und vereinzelter Bebauung. Bei ihrer Gründung in den 1960er Jahren war die Hochhaussiedlung aus Beton mit ihren riesigen Parkplätzen der Traum von einem besseren Leben und das Domus Vista, ein Wohnhaus von 102 Metern, war das Tüpfelchen auf dem i. Inzwischen ist diese Art der Bebauung jedoch überholt und verbesserungswürdig.

Die für den Aufenthalt ungeeigneten Laubengänge wurden durch große private Balkone für alle Wohnungen ersetzt. Von außen hat Betty I nach dem Umbau Rhythmus, Haptik und Raum für individuelle Gestaltung bekommen.

Am Fuße des 30-stöckigen Domus Vista befinden sich zwei kleinere, parallele Blöcke von achtstöckigen Hochhäusern, die in den letzten fünf Jahren (2015 bis 2020) innen und außen grundlegend verändert wurden. Die beiden Blöcke von 1970, heute in Anlehnung an den Straßennamen, Betty Nansens Allé, Betty 1 und Betty 2 genannt, waren aus funktionaler, gesellschaftlicher und nachhaltiger Perspektive veraltet. Vor der Renovierung präsentierten sich die beiden Blöcke als anonyme, monofunktionale, kastenförmige, modulare Gebäude mit Balkonen und Balkonkorridoren aus Beton, Mauerwerksgiebeln aus gelben Maschinensteinen und Flachdächern.

Unter der Leitung von ONV Arkitekter und Rambøll wurden die beiden Wohnblöcke in einem längeren Prozess in eine neue Ära geführt. In dem Pionierprojekt (2016-18) wurde Betty 1 in ein Multifunktionsgebäude umgewandelt. Die 63 Wohnungen für Menschen mit Behinderungen wurden durch 46 barrierefreie Wohnungen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität und ältere Menschen sowie 29 Jugendunterkünfte ersetzt, insgesamt 75 Wohneinheiten. Beide Gebäude waren stark mit PCB und Schwermetallen kontaminiert, so konnte nur der Rohbau in Beton stehen bleiben. Mit wirkungsvollen Mitteln wurde das Gebäude von Grund auf verändert.

Zwischen den beiden Blöcken blieb eine Baumgruppe von Buchen erhalten, die jetzt die Grundlage für einen offenen, freundlichen und abwechslungsreichen Landschaftsraum bildet.

Mit wirkungsvollen Mitteln wurde das Gebäude von Grund auf verändert.

Durch die neue dunkle und umschließende Fassadenverkleidung erhalten insbesondere die beiden Langseiten einen ganz anderen Charakter. Die Ostseite zeichnet sich durch eine große Fläche mit eigenständigen, aufrechten Aluminiumfenstern in wechselnden Formaten aus, von denen einige als französische Balkone mit Glassicherung gestaltet sind. Als weitere Variation ist die südöstliche Ecke als Risalit konzipiert, der die Fassadenlinie des Erdgeschosses erweitert. Dies und der sich über die gesamte Etagenlänge erstreckenden Balkon, der auf dem hervorspringenden Erdgeschoss ruht, sind Reminiszenzen an die früheren Laubengänge. Der Risalit erstreckt sich bis zum neunten Stock und geht dort in eine offene Dachterrasse über. Auf der Westseite, der anderen Langseite, zeigt sich das Gebäude viel durchlässiger. Hier haben die Architekten drei symmetrische Erker mit dem gleichen Fenstertyp mit Fensterläden an der alten Konstruktion angebracht und diese mit durchgehenden, offenen und leichten Balkonkonstruktionen aus verzinktem Stahl verbunden.

Korrespondenz mit dem öffentlichen Raum: Die Erdgeschosse wurden erhöht und transparenter gemacht.

Die Balkone erstrecken sich über den Rest der Fassade, sowohl durch die beiden Zwischenräume zwischen den Erkern als auch um die beiden Hausecken. Die Fassade ist weitgehend symmetrisch konzipiert, wobei die Balkone in der Mitte eine ungleichmäßige Breite aufweisen und die Stützen in beiden Fassadennischen dadurch leicht nach links verschoben sind. Im Erdgeschoss ist die größte Verwandlung zu spüren. Hier wurden zwei Stockwerke zu einem zusammengefügt. Man blickt durch eine Glasfassade in einen langen Raum, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes erstreckt.

Von dieser Seite aus gesehen erschließt sich die Logik der Dachterrasse: Der am weitesten nördlich gelegene Erker wird nach oben geführt, geht auf dem Dach über und ergänzt das Volumen im Giebel der gegenüberliegenden Seite. Beide wurden schräg angeschnitten, was für ein lebendiges Dachprofil sorgt. Auf der Ostseite ist nur eine Neigung deutlich sichtbar, und die beiden Räume sind durch eine Leitplanke aus Glas und eine Schirmfassade mit einem versenkten Balkon verbunden. Auf der Westseite öffnet sich die Struktur. Die Dachterrasse ist mit Holz verkleidet und verfügt über Pflanzenkästen, Bänke und Verkleidungen, die ebenfalls aus Holz bestehen. Leider wirkt der Plan hier starr und seine Funktionalität nicht intuitiv. Die Öffnung mit Glassicherung in der Schirmfassade beispielsweise erscheint in dieser Höhe so zwecklos wie unschön.

Teils über die Fassadenverkleidung, teils durch die lokalen Eingriffe haben ONV Arkitekter die Monofunktionalität und Monotonie der alten Blöcke überwunden.

Die Klinker sind leicht schräg montiert, wie Biberschwänze aus Holz.

Sowohl Betty 1 als auch Betty 2 sind mit einer von Röben hergestellten Keramikschindel verkleidet, die Teil eines von Komproment entwickelten neuen Dach- und Fassadensystems ist. Sie heißt Vidar und wurde hier in einer gerillten Version ausgewählt, wodurch sie wie ein gewöhnlicher Klinker aussieht, der umgedreht wurde. Das System ist Cradle-to-Cradle-zertifiziert. Die gewählte Farbe Manchester Blue Reduced ist überwiegend anthrazit, ändert sich aber auch in Stahlblau, Aubergine und Rostrot. In einer Entfernung, in der das Farbenspiel schwerer zu erkennen ist, kann es wie Schiefer aussehen. Die Fassadenstruktur und die dunkle Umhüllung haben einen erheblichen Einfluss auf das Erscheinungsbild der Gebäude. Vor diesem Hintergrund erscheint der Fassadenausdruck auf der Westseite von Betty 1 heller und kontrastreicher.

Betty 2 (2018 – 20) ist einheitlicher strukturiert. Das Gebäude umfasst 76 Sozialwohnungen mit betreutem Wohnen, Pflege- und Seniorenwohnungen. Hier wurde der Block mit identischen Reihen desselben traditionellen Fensters verwandelt, das Falze aus Aluminium und einen inneren Fensterladen aus Holz aufweist. In den Giebeln sind wieder Verschiebungen nach oben zu sehen. Die Dachform ist hier ein traditionelles Satteldach, das in der Formation der Giebel wiederholt wird. Auch hier ist ein Empfangsraum mit doppelter Höhe in das Gebäude eingebettet. Das einladende Foyer ist mit Holz verkleidet und hat einen Boden aus hellgrauen Fliesen.

„Die äußere Gestaltung des Gebäudes hat nun eine eigene Form und Figur erhalten.“

Søren Rasmussen, ONV Arkitekter, Kopenhagen (DK)
Die hervorgehobene Fassade im Giebel lockert den großen Maßstab spielerisch auf. Auch das Holz trägt zur Variation bei und strahlt Wärme aus.

Das Gebäude umschreibt die dänische funktionelle Tradition mit modernen Mitteln. Das Projekt hat zwei modernistische Blöcke in ihr Gegenteil verwandelt. Das Multifunktionsgebäude Betty 1 wurde so auf die Bedürfnisse seiner Bewohner zugeschnitten, dass die Sonnenorientierung, die Anpassung der Fensterformate und die allgemeine Funktionalität – ein Kennzeichen der Moderne – heute besser umgesetzt sind als zuvor. Gleichzeitig stellt der einheitliche Materialcharakter der Fassade die Kohärenz zwischen den Blöcken wieder her. Die Ostfassade von Betty 1 erscheint etwas zugeknöpft. Hier wären etwas mehr Experimentierfreude und eine lebendigere Gestaltung der großen Oberfläche wünschenswert gewesen.

Insgesamt haben die beiden Blöcke ihre Gebäudestruktur jedoch auf positive und kreative Weise wiedererlangt, teils über die Fassadenverkleidung, teils durch die lokalen Eingriffe, mit denen ONV Arkitekter die Monofunktionalität und Monotonie der alten Blöcke überwunden haben.

Gespräch mit Søren Rasmussen
Interview Marie Bruun Yde

Søren Rasmussen

Marie Bruun Yde: Søren Rasmussen, die zwei Multihäuser befinden sich in einer Großwohnsiedlung aus den 1960er und 70er Jahren in der Kopenhagener Vorstadt. Hier befindet sich auch das Domus Vista, ein Hochhaus von über 100 Metern Höhe, das 1969 das höchste Wohnhaus Dänemarks war, und weitere soziale Wohnungsbauten in verschiedenen Maßstäben. Wie war die Situation vor Ort, als Sie mit der Sanierung begonnen haben?

Søren Rasmussen: Am einen Ende der Siedlung befinden sich begehrte terrassierte Reihenhäuser, am anderen Ende funktionierte der Ort vor der Renovierung eher weniger gut, denn viele ursprüngliche Funktionen, wie das Ladenzentrum, waren nicht mehr in Betrieb, und eine schwächere Sozialstruktur hatte sich entwickelt. Parallel mit der energetischen Sanierung der Gebäude wurde auch die gesamte Umgebung neu strukturiert – u. a. gibt es jetzt eine neue Bibliothek – und landschaftsarchitektonisch aufgewertet.

Welche Veränderungen mussten an den Häusern vorgenommen werden?

Es gibt viele von diesen „vergessenen Kommoden“, die immer gleich aussehen: Große Flachbauten mit eintönigen Fassaden. Manche lieben diesen scharf geschnittenen klassischen Modernismus. Aber die Bauten haben viel Beton, Homogenität und Tristesse, ihnen fehlt der menschliche Maßstab, die Humanität.  Auch die Laubengänge waren eine Herausforderung. Niemand mag es, wenn die Nachbarn direkt in die eigene Wohnung reinschauen können, das wollten wir ändern. Darüber hinaus gab es die bautechnischen Herausforderungen, wie beispielsweise die Wärmedämmung.

Typischer Massenwohnungsbau der dänischen New-Town-Spätmoderne:
Ursprünglich verlief die Erschließung über Laubengänge.

Wie konnten Sie mit der Monotonie brechen?

Essenziell war, dass wir die Laubengänge entfernt und die Erschließung ins Gebäudeinnere verlegt haben. Die Laubengänge waren für soziale Interaktion ungeeignet. Stattdessen haben alle Wohnungen jetzt eigene großzügige Balkone. Die niedrige Decke im Erdgeschoss haben wir herausgenommen, sodass es hier jetzt eine Doppeletage mit multifunktionalen Räumen gibt. Das Dach haben wir hochgezogen, zu Wohnungen ausgebaut und mit einer großen, gemeinschaftlich nutzbaren Terrasse ausgestattet. Außerdem gibt es jetzt eine gemeinsame Küche. Das Wohnungsprogramm wurde erweitert, neben Wohnungen für Familien und Menschen mit Behinderung gibt es nun auch Studierenden- und Seniorenwohnungen. Die äußere Gestaltung des Gebäudes hat nun eine eigene Form und Figur erhalten. Große Partien der Schmalseite wurden vorgeschoben, um den Fassadenrhythmus zu variieren. Die alten Fassaden wurden durch neue, leichte Ziegelfassaden ersetzt. So sind die Wohnungen heute wesentlich heller. Vom alten Haus blieb im Grunde nur die Betonstruktur. Es ist das erste Mal, dass wir so viele Veränderungen an einem Haus vorgenommen haben.

Die Großwohnbauten der Nachkriegszeit sind Ebenezer-Howard-diagrammatisch vom innen nach außen gedacht: Die Wohnung im Haus, im Block, im Quartier, in der Stadt … Wurden hier die Übergangszonen vergessen?

Viele Treppenhäuser sind wie ein Rohr mit darin liegender Treppe gemacht. Du siehst hier niemanden oder erschrickst dich sogar, wenn du jemanden triffst. Die Tendenz ist leider, dass die Treppe nur rein funktional genutzt wird, um schnell nach oben zu steigen, jedoch kein Ort der Begegnung ist. Sie generiert keine Interaktion, aber das können wir als Architekten ändern. Wir nehmen an dem Wohnungslaboratorium von Statens Kunstfond und Realdania teil. Hier arbeiten wir an vertikalen Ankunftsräumen der Zukunft, die Treffpunkte und auch die Chance, deine Nachbarn kennenzulernen, bieten. Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Kollektiven.

Die Landschaft wurde von dem Ingenieur und Architekturbüro Rambøll, die auch am Umbau der Wohnhäuser beteiligt waren, und den „Space Activators“ Keingart neu entworfen. Die vorher eintönigere Fläche wurde dabei durch eine breite Palette von Spiel-, Sport- und Aufenthaltsmöglichkeiten aktiviert.

Sie haben zahlreiche Preise für Ihre präfabrizierten Sozialwohnungen und Wohnungen für Geflüchtete gewonnen. Interessieren Sie sich mehr für kostengünstigen Wohnungsbau, der Städtebau ernst nimmt, als für repräsentative Architektur?

Mensch und Gemeinschaft stehen bei uns im Fokus. Wir versuchen immer das Schönste herauszuholen und gewähren der Ästhetik eine hohe Priorität, aber kalkulieren eben auch sehr bewusst, wie wir die Kosten verteilen. Wir entwerfen soziale Räume und platzieren Gebäude und Funktionen, damit eine qualitativ hochwertige Situation entsteht.

Ziegelfassaden zeigen der Stadt ein warmes, freundliches Gesicht. Welche Rolle kann das Material hier spielen?

Ziegel patiniert sehr schön. Die unglaubliche Qualität von Röbens Ziegel ist es, dass er mit der Zeit schöner wird. Und zusätzlich besitzt er die Fähigkeit, um Ecken herumlaufen zu können.

Warum haben Sie Ziegel aus Deutschland verwendet?

Wir arbeiten mit dem Fassadenhersteller Komproment zusammen, der das einfache, industrielle, hinterlüftete Aufhängungssystem für Ziegel entwickelt hat. Er lud uns ein, Röbens Ziegelei zu besuchen. Als Resultat haben wir gemeinsam die neue, dünne Keramikschindel zur Nachisolation von Fassaden entwickelt. Mit traditionellen Ziegelsteinen zu bauen ist sowohl zu teuer als auch zu aufwendig. Statt 11 Zentimeter ist dieser Backstein nur 11 Millimeter dick und trotzdem können beinahe die gleichen Eigenschaften erreicht werden. Der dünne Backstein ist nicht nur günstiger, sondern auch besser handhabbar, kann hängen, kann „klettern“, kann wieder zerlegt und für etwas anderes verwendet werden. Wir haben diese Ziegelsteine auch in vielen weiteren Projekten verwendet. Mittlerweile sind sie Cradle-to-Cradle-zertifiziert.

Architekten

ONV Arkitekter, Kopenhagen (DK)

ONV Arkitekter wurde von Søren Rasmussen gegründet und hat seinen Sitz in Kopenhagen. Seit 2006 hat das Architekturbüro rund 1.500 Sozialwohnungen sowie Typenhäuser, Kindertagesstätten, Pflegeheime und Ferienhäuser gebaut. ONV Arkitekter ist ein sozialbewusstes Büro, das Architektur für Menschen, unabhängig von Status und Einkommen, entwirft. Das Büro hat zahlreiche Auszeichnungen für seine industrielle Architektur und Konzepte für nachhaltiges Bauen erhalten, darunter für seine Fertighaus-Flüchtlingsunterkünfte.

Architekten

2020 Betty II, Frederiksberg (DK)
2019 Betty I, Frederiksberg (DK)
2019 VenligBolig Plus, Frederiksberg (DK)
2018 Rathaus Odsherred (DK)
2018 AlmenBolig+, Nordre Fælledkvarteret, Kopenhagen (DK)

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